Allversöhnung und Religionskritik: Die Jahreslosung für 2001
steht in Kolosser 2,3
Abfuhr für
Zeitgeist-Religion und Moraloffensiven
Von Helmut Frank
Typisch für eine pluralistische Gesellschaft", schreibt der
Spiegel in seiner Ausgabe zu Weihnachten, "ist der Trend zur
Multitranszendenz". Anders ausgedrückt: Ein Gott, ein
Heilsversprechen oder eine Religion reichen nicht mehr, deshalb wird
kombiniert, was scheinbar ganz gut zusammenpasst: Jesus und Buddha,
tantrisches Trommeln und eine esoterische Soma-Therapie - die
Wohlfühlreligion lässt sich individuell gestalten.
Die Jahreslosung der Herrnhuter Brüdergemeine für 2001 erscheint
dagegen als widerborstig, anachronistisch, als Wort gegen den Trend
zur Patchwork-Religion: "In Christus liegen verborgen alle Schätze
der Weisheit und der Erkenntnis".
In der Mitte des 1. Jahrhunderts nach Christus, als der
Kolosserbrief entstand, war die "religiöse Szene" noch
unüberschaubarer als heute. Im hellenistischen Raum konkurrierten
Naturreligionen und synkretistische Kulte mit der offiziellen
römischen Staatsreligion; vor allem durch die Mission des Paulus
breitete sich das Christentum aus.
Kolossä, eine alte Wollhändlerstadt im Gebiet der heutigen
Westtürkei, verkehrsgünstig an einem Handelsweg von Ephesus nach
Tarsus gelegen, hatte eine kleine christliche Gemeinde. Ein
Mitarbeiter des Apostels hatte sie gegründet. Doch nun gab es ein
Problem, sonst hätte es wohl auch den Kolosserbrief nie gegeben: In
den christlichen Gemeinden der Gegend machte sich eine neue Lehre
breit. Paulus, der bei Abfassung des Briefes im Gefängnis weilt,
warnt vor verführerischen Reden und einer neuen Philosophie. Das
Anliegen des Briefes ist, dieser Philosophie entgegenzutreten und
die Gemeinden im Christus-Glauben zu stärken.
Die Lehre der Gegner lässt sich aus der Argumentation des
Kolosserbriefes rekonstruieren: Sie forderten eine esoterische
Engelverehrung, die Einhaltung asketischer Speisevorschriften und
Festgebote und sexuelle Enthaltsamkeit. Zentral war die Beobachtung
der "Elemente", gemeint sind Erde, Wasser, Luft, Feuer - nach
antikem Weltbild die Strukturelemente des Kosmos, lebensschaffend
und lebensbedrohend als Erdbeben, Flut, Sturm und Brand. Offenbar
stellten die rhetorisch geschulten Gegner moralische Normen auf, mit
deren Einhaltung sich die Christen in Kolossä von der Macht dieser
"Elemente" befreien sollten. Die Elemente wurden mythologisiert,
vergeistig, als Götter gefürchtet, denen man durch Einfügung in die
kosmische Ordnung Verehrung zeigt.
Die Zeit, in der der Brief geschrieben wurde, war umgetrieben von
Weltangst. Die Erde war nicht mehr der sichere Boden, auf dem man
festen Stand gewinnen konnte. Das Fundament war brüchig, die
Elemente in Aufruhr.
In Christus liegen verborgen alle Schätze der Weisheit und der
Erkenntnis
Kolosser 2,3 Jahreslosung 2001
Wer garantierte, dass nicht alles aus den Fugen gerät und der
Kosmos auseinanderbricht? Tatsächlich wurde Kolossä und das
benachbarte Laodicäa nach einem Bericht des römischen
Geschichtsschreibers Tacitus um das Jahr 60 von einem Erdbeben
zerstört.
Für Paulus war jedenfalls brisant, dass die Vertreter der neuen
Lehre ihre Philosophie als legitimen Ausdruck des christlichen
Glaubens verstanden. Er sah das Evangelium, die Botschaft vom Heil
durch Christus und allein durch Christus, gefährdet. Die Bedeutung
Christi für den gesamten Kosmos inklusive aller mystifizierten
Elemente steht daher im Zentrum seines Briefes, der sich in seinen
Aussagen über Christus ungefähr so zusammenfassen lässt:
Christus ist der Erstgeborene vor aller Kreatur, in ihm wurde das
All geschaffen und durch ihn hat es Bestand (1,15-20). Als Herr der
Schöpfung und Schöpfungsmittler herrscht er über alles Geschaffene,
das Unsichtbare und Sichtbare. Christus ist das Haupt aller Mächte
(2,10) und triumphiert über die kosmischen Gewalten (2,15). In ihm
hat der Kosmos Bestand, er weist allen Mächten ihre Bedeutung zu.
Die Gemeinde partizipiert bereits jetzt an dieser Herrschaft
Christi. Er versöhnte durch seinen Tod die Glaubenden mit Gott
(1,22) und tilgte den sie anklagenden Schuldbrief (2,14). Mehr noch:
In Christus hat Gott alles mit sich versöhnt, es sei auf Erden oder
im Himmel (1,20). Es ist alles und in allen Christus (3,11).
Interessant ist, dass der Autor alle Jenseitserwartungen in den
Hintergrund stellt. Die Erlösung geschieht schon hier und jetzt:
Durch die Taufe sind die Glaubenden mit Christus gestorben und mit
ihm (2,12f) auferstanden (ein Gedanke, der für das Taufverständnis
Luthers zentral wurde). Durch die jetzt schon geschehene
Auferstehung können die Mächte der Welt den Getauften nichts mehr
anhaben.
Der Brief erzählt von Christus, der die brüchige Welt
durchschritten hatte, und proklamiert das "solus christus": Weder
Engelverehrung, Demut, Askese noch die Anbetung von Mächten schaffen
das Heil des Menschen, sondern allein Christus. In ihm ist das Heil
jetzt schon voll gegenwärtig, er hat die Mächte überwunden, in der
Taufe hat die Gemeinde daran teil. Es bedarf daher keiner weiterer
Praktiken oder Einsichten, um am Heil zu partizipieren. In Christus
liegen verborgen alle Schätze der Weisheit und Erkenntnis. Damit ist
die zentrale Stellung Christi für das Heil und alle Erkenntnis
unterstrichen.
Die universale Bedeutung des Christusgeschehens schließt die
gesamte Schöpfung mit ein. Die Aussage des Kolosserbriefes von der
Versöhnung des Alls (2,9) ist im Neuen Testament einzigartig und hat
in der Kirchengeschichte ein große Wirkung entfaltet. Origines sah
auch die Teufel gerettet, der Reformator Martin Bucer entwickelte
daraus seine Lehre von der "Wiederbringung aller Dinge". Die Lehre
von der Allversöhnung erweichte die hartknäckig frommen
württembergischen Pietistenväter Hahn, Blumhard und Oetinger, der
"Gottes Geschäft der Erlösung" darin sah, "dass Christus alles
wieder zu ihm selbst versöhnen wird".
Weil man glaubte, nur die Angst vor dem Jüngsten Gericht könnte
Moral und Sitten bewahren, wurde die Lehre von der Allversöhnung in
Kirche und Theologie bekämpft und geleugnet. Sogar die Legitimation
der Mission sahen manche Kirchenmänner gefährdet, sollte es eine
Allversöhnung geben. Aber es gibt bis in neuere Zeit Sympathisanten:
Der reformierte Theologe Karl Barth sagte, die im Kolosserbrief
proklamierte Versöhnung und Entgötterung des Kosmos führe zu einer
"weit gelasseneren Haltung des Gottesvolkes der Welt gegenüber".
Dass Versöhnung allumfassend ist und schon hier und jetzt
geschieht, das ist die Botschaft des Kolosserbriefes, die Christen
gelassen und weltzugewandt stimmen sollte. Die Heilstat Christi
entbindet von allen religiösen Praktiken und wirft uns ganz auf den
Glauben zurück. Aber es gilt auch die Warnung: Der ganze moderne
Synkretismus ist wertlos gegen die Weisheit Christi. Der
Spiritualismus der Esoteriker wie die moralische Aufrüstung der
Frommen erhalten im Kolosserbrief eine harsche Abfuhr. Und der
Kolosserbrief mahnt: holt eure Weisheit und Erkenntnis nicht vom
Zeitgeist der Kultur!
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