Verdammungen, Kirchenspaltung und Scheiterhaufen verfolgen
sie seit Jahrhunderten, die Lehre von der Allversöhnung. Schon
Origenes, Kirchenvater der Antike (184–254 n.Chr.), lehrte die Lehre
von der Wiederbringung aller Dinge, dass am Ende der Zeit alles zu
Gott zurückgeführt wird, auch die Ungläubigen. Anstoss dazu gegeben
hat Paulus: «Wenn dem Sohn aber alles unterworfen ist, dann wird
auch der Sohn selbst dem unterworfen sein, der ihm alles unterworfen
hat, damit Gott alles in allem sei.» (1 Ko 15, 28) Origenes wurde
für diese Lehre verdammt.
Geheime Verbreitung – Geheime
Zustimmung
Später fand die Allversöhnung Vertreter unter
den Pietisten, allerdings nur unter der Hand: «Ein Ochs, wer sie
nicht kennt, und ein Esel, wer sie lehrt.» Der Theologe Emil Brunner
war ihr zugeneigt, auch der Theologe Karl Barth bekundete
Sympathien: «Ich lehre sie nicht, aber ich lehre sie auch nicht
nicht.» Selbst in der EMK finden sich etliche AnhängerInnen, aber
meist nur im Geheimen, denn für viele ist sie noch immer eine arge
Ketzerei, die biblisch nicht belegt ist. Aber das täuscht: Neben der
Korintherstelle redet vor allem Kol 1, 20 eine deutliche Sprache:
«Es gefiel Gott, die ganze Fülle in Christus wohnen zu lassen und
durch ihn alles mit sich zu versöhnen, … sei es, was auf der Erde
oder was in den Himmeln ist.» (Vgl. auch Phil 2, 9 und Eph 1, 9 f.)
Es stimmt, dass Aussagen zum Gericht über die Ungläubigen in der
Bibel viel weiter verbreitet sind, aber wenn wir die Bibel nicht nur
wörtlich, sondern ernst nehmen, dann muss jede Aussage auf ihren
Wahrheitsgehalt hin geprüft werden.
Allversöhnung – Was
ist das?
Allversöhnung lehrt, dass Gott das, was er
anfängt, auch zu Ende führt. Wenn Gott aus lauter Liebe Menschen
schafft, dann lässt er sie am Ende der Zeit nicht fallen, selbst
wenn sie sich von ihm abgewandt haben. Er bleibt ihr Vater und sie
seine Kinder.Denn in Christus versöhnt Gott die Welt (2 Ko 5,
18; Joh 3, 16) gegen all ihren Widerstand, und selbst wenn er dazu
die absolute Gottesferne auf sich nehmen und bis in die tiefsten
Tiefen des Todes vordringen muss. Gilt dieser Tod nur für die
Frommen? Oder anders gefragt: Ist es denk- und glaubbar, dass Gott
das Kreuz auf sich nimmt, um dann trotzdem die grosse Mehrheit der
Menschen zu verwerfen, weil sie nicht glauben? Die Hölle wäre um ein
Tausendfaches grösser als der Himmel – können wir das im Ernst
glauben wollen?
Die Hölle ist leer
Auf der
anderen Seite: Können wir an eine Allversöhnung glauben im Angesicht
des millionenfachen Mordes an den Juden im Zweiten Weltkrieg? Können
wir als Christen annehmen, dass sogar Massenmörder wie Hitler in den
Himmel kommen und nicht auf ewig in der Hölle schmoren? Die
Tauglichkeit einer Theorie zeigt sich dann, wenn sie auch
Extremfällen standhält, also zum Beispiel Hitler, Stalin und andere
bluttriefende Tyrannen. Wohlgemerkt: Die Allversöhnung behauptet
nicht, dass alle «einfach so» gerettet werden, denn das wäre nicht
Gnade, sondern lediglich Gleichgültigkeit Gottes. Davon ist nicht
die Rede, sondern davon, dass Gott in Christus am Kreuz endgültig
gesiegt hat und es keinen Ort mehr gibt, über den er nicht herrschen
würde. Mit anderen Worten: Es gibt eine Hölle, aber sie ist leer.
Denn Gott bleibt bei seiner Liebe, auch wenn sie abgewiesen wird,
und er bleibt beharrlich bei seinen Menschen, selbst wenn diese
ebenso beharrlich Nein sagen. Er bleibt ihnen so verbunden, dass er
sie am Ende der Zeit zu sich zurückführt und sie zu denen macht, als
die er sie eigentlich gedacht hat. Hitler kommt also nicht «einfach
so» in den Himmel, sondern erst, wenn er von all dem, was ihn von
Gott trennt, gereinigt ist. Gott gibt ihn nicht auf, denn er ist und
bleibt sein Vater, sondern er läutert ihn, bis er bestehen kann. Das
mag schmerzhaft sein, und das mag sehr lange dauern – Gott kommt
trotzdem an sein Ziel. Selbst im für uns unvorstellbaren Fall
Hitlers.
Kritische Anfragen
Gegen die
Allversöhnung wird häufig behauptet, dass sie zu moralischer
Gleichgültigkeit führe, weil jeder unabhängig von seiner Lebensweise
in den Himmel komme. Das trifft jedoch lediglich für Menschen zu,
die nur aus Angst vor der Hölle gut leben und nicht, weil ein gutes
Leben auch ein wahres Leben ist. Das Argument sticht nicht. Ebenso
fraglich ist die Behauptung, Gott habe uns den freien Willen gegeben
und respektiere unseren Entschluss für oder gegen ihn. Aber haben
wir diese Wahlfreiheit wirklich? Sind wir immer frei in der
Entscheidung, niemals gebunden in unserer sozialen Realität, in
unserer Biographie, in unseren Phantasien und Lüsten? Und haben wir
uns damals wirklich selbst für den Glauben entschieden, oder war es
nicht eher der Geist Gottes, der dieses Ja in uns geschaffen hat?
Ich glaube, dass die Vorstellung einer völligen
Entscheidungsfreiheit eine Illusion ist – wir sind immer auf die
Gnade Gottes angewiesen. Und schliesslich wird gefragt, wer wir denn
seien, dass wir uns über das Wort Gottes in der Bibel stellen
dürften. Aber wer sind wir denn, dass wir uns und unsere
Vorstellungen von Gnade und Gerechtigkeit über Gott stellen? Ist es
wirklich Gottes Wille, dass alle Sünder gnadenlos verloren sind? Es
ist oft erschreckend, mit welcher eisernen Konsequenz ChristInnen
die Ungläubigen in die Hölle wünschen.
Allversöhnung ist
Freiheit
Allversöhnung im Sinne der Wiederbringung aller
Menschen zu Gott würde Freiheit bedeuten: Freiheit in der Mission,
weil sie frei von Angst vor Verdammung nicht mehr bekehrungsfixiert
sein muss, sondern frei und gnädig vom grossen Ja Gottes für die
Menschen reden kann. Das scheint mir überzeugender zu sein. Freiheit
auch im Umgang mit dem eigenen Scheitern: Was in meinen Händen
zerbrochen ist, ist mein Ende, nicht aber Sein Ende. Gerade auch
dann, wenn ich durch mein Leben und Werken andere Menschen vom
Evangelium abgehalten habe. Und Freiheit schliesslich auch in der
grenzenlosen Hoffnung für die Millionen von Menschen, die nicht
glauben, unter ihnen viele unserer besten Freunde, vielleicht sogar
unsere Eltern, Geschwister, unsere eigenen Kinder. Hoffnung, dass
ihr Nein immer im Licht des vorgängigen Ja Gottes steht. Und genau
hierhin gehört die Allversöhnung: Sie ist Ausdruck frömmster
Hoffnung und innigsten Gebets. Hoffen und beten, dass Christus das
letzte Wort der Gnade spricht. Denn grössere Hoffnung kann niemand
haben als die, dass Gott auch die ärgsten Sünder zu sich
zurückzuführen vermag. Das wäre echte Feindesliebe.
*Christoph Schluep ist Pfarrer in Zürich 4
___
Der obenstehende Artikel findet sich in der aktuellen
Ausgabe Nr. 4/2005 der Zeitschrift kirche+welt unter der neuen
Rubrik "kontrovers":
kontrovers - Aktuelle Themen,
unbequeme Fragestellungen und interessante Diskussionspunkte sollen
hier besprochen werden. Und nicht nur aus einer Sichtweise, sondern
immer aus beiden. Ein Artikel pro – ein Artikel kontra!
Der
obenstehende Artikel befürwortetet die Allversöhnung, in der
nächsten Ausgabe erscheint ein kritischer Artikel zur Allversöhnung.
Gefällt Ihnen die Idee? Was halten Sie vom Artikel?
Schreiben Sie uns einen Leserbrief, Ihre Meinung interessiert uns!
Adresse: Redaktion kirche+welt, Postfach 1344, 8026 Zürich,
redaktion@kircheundwelt.ch ____
Auch in der neusten
Ausgabe 4/2005 von kirche+welt:
- Der Weltsgebetstag -
nicht nur für Frauen - Kind, was hast Du uns angetan? - Jesus
als 12-jähriger im Tempel - 10 Fragen von kirche+welt, 10
Antworten von Bischof Dr. Walter Klaiber
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