Hat der Mensch einen freien Willen?

Was ist eigentlich freier Wille? Der Humanist Erasmus von Rotterdam hatte schon vor rund 500 Jahren (Vom unfreien Willen) eine heftige Auseinandersetzung mit Martin Luther darüber. Erasmus meinte, freier Wille bedeutet, dass jeder Menschen die Möglichkeit hat, für sein Seelenheil selbst zu sorgen, nämlich, dass „sich der Mensch zu dem hinwenden kann, was zum ewigen Heil führt, oder sich davon abwenden kann“.

Diese Definition wird von vielen Christen wie Nichtchristen nach wie vor geteilt. Ist sie aber auch biblisch?

Kann man sich bekehren?

Lassen wir zunächst Luther antworten. Luther stößt sich schon am dem kleinen Wörtchen „sich“. Der Mensch könnte angesichts des Heilsangebots „sich zuwenden“ oder „sich abwenden“. Wer wendet dabei? Der Mensch sich. Also ist der Mensch das Subjekt, der Handelnde. Wen wendet er? Sich! Also auch das Objekt, der Behandelte ist der Mensch. Das bedeutet fraglos: Der Mensch kann über sich nach Belieben verfügen und hat sich an entscheidender Stelle selbst im Griff. Diese Theorie, die den Menschen in den Mittelpunkt stellt, wird auch Synergismus oder Pelagianismus genannt. Was heißt das aber anderes als „Der Mensch ist in ganzer Freiheit sein eigener Herr“? Da ist nichts mehr von der Versklavung unter der Sünde. Wer sich so selbst in der Hand hat, sich so nach Wunsch hin- und abwenden kann, der ist – die Konsequenz ist unausweichlich – sein eigener Erlöser.

Angesichts des angebotenen Heils wird der Mensch also zum strahlenden „Selbstversorger“. Luther hält Erasmus vor: „Du überlegst gar nicht, wie viel du ihm (dem freien Willen) mit diesem Wörtchen „sich“ oder „sich selbst“ beilegst, wenn du sagst: er kann sich hinwenden, damit schließt du ja ganz und gar den Heiligen Geist mit all seiner Kraft aus, als wäre er überflüssig oder gar nicht notwendig“.

Der Menschenfreund Erasmus sagt also, dass das Heil angeboten wird und der Mensch entscheidet. Der Theologe Luther sagt dazu „Das ist zu viel!“. Es ist für ihn eine nicht zu überbietende Vermessenheit, nichts als Gotteslästerung. Festzuhalten ist jetzt schon, dass der moderne Protestantismus Erasmus gefolgt ist und nicht etwa Luther, obwohl im grundlegenden protestantischen Glaubensbekenntnis Confessio Augustana in Artikel 18 der Pelagianismus noch verworfen wird. In unseren Kirchen wird stattdessen oft „marktwirtschaftlich“ menschlich gedacht: Gottes Gnade sei ein bloßes Angebot und der Kunde Mensch treffe die Entscheidung. Dabei sei die Gnade bloße Möglichkeit; wir Menschen müssten sie erst wirklich werden lassen. Das ist Humanismus und letztlich Atheismus: Der Mensch steht im Mittelpunkt, der Mensch entscheidet, der Mensch will Gott sein.

Wie wird man gläubig?

Warum kommen Menschen nach der Bibel zum Glauben? Weil der Mensch Gott auswählt? Nein, umgekehrt ist es: Man wird ganz passiv von Gott „vor dem Niederwurf [Grundlegung] der Welt auserwählt“ (Eph. 1,4), Gott hat die Gläubigen der jetzigen Zeit lediglich „vorgezogen zur Rettung“ (2. Thess. 2,13). „Die Er vorherbestimmt, diese beruft Er auch; und die Er beruft, diese rechtfertigt Er auch.“ (Römer 8,30). „Alle die zu äonischem Leben verordnet waren, kamen zum Glauben“ (Apg. 13,48). So ist auch Römer 10,20 zu verstehen: „Ich habe mich von Menschen finden lassen, die nicht nach mir suchten. Ich habe mich denen zu erkennen gegeben, die nicht nach mir fragten“ (siehe auch Jes. 65,2).

„Denn aus der Gnade seid ihr Gerettete durch Glauben, und dies nicht aus euch, sondern Gottes Nahegabe ist es, nicht aus Werken. Damit sich niemand rühme!“ (Eph. 2,9-10). Das  bedeutet, dass keinerlei Vorleistung des Menschen erforderlich ist, auch nicht die sog. freie Entscheidung für Gott. Gnade ist ein unverdientes und unverdienbares Geschenk Gottes, der Glauben ist uns von Gott gegeben worden – nur weil Gott es wollte. Wenn man aufgrund eigener Denkleistung zum Glauben kommen könnte, wäre der Weg nicht mehr weit, auf andere herab zu sehen. Weil dem nicht so ist, gibt es keinen Grund, sich zu rühmen!

Widerspricht dies aber nicht dem üblichen Empfinden und den Aussagen vieler Christen, die sagen: „Ich habe mich bekehrt, ich bin zum Glauben gekommen.“? Es wird selten gesagt: „Der Glaube kam über mich“. Zeigt das nicht, dass Menschen ihre Bekehrung als eine Entscheidung erleben, als einen aktiven Schritt zum Glauben?

Das kann sein, aber wie kommt diese Entscheidung zustande? Die Bibel sagt ja, das Gott in uns wirkt, aber nicht ohne uns. Er schafft beides, das Wollen und das Vollbringen (Phil. 2,13). Er „macht uns Beine“ und so kommen wir zum Glauben. Das alte „Ich“ wird aber dabei nicht „vernichtet“, sondern es wird umgewandelt. Die „alte Menschheit“ (Römer 6,6) stirbt, das „Zum-Glauben-kommen“ ist die erste Lebensäußerung des auferweckten Menschen.

Gottes Wollen und unser Wollen bilden dabei keine Koalition, sie ergänzen sich nicht etwa zu 100 Prozent („Mischfinanzierung“), unser Wollen ist vielmehr umgriffen, durchtränkt, „durchgeistet“ von Gottes Wollen. Luther nennt die Theorie der Mischfinanzierung (menschliche Leistung und Gottes Angebot) eine teuflische Irrlehre. Der Mensch ist soteriologisch ohnmächtig, er kann sich nicht selbst erlösen. Wenn der Mensch wirklich das Seine dazutun müsste und sei es zu einem noch so kleinen Anteil, also das aktiviert, was in seinem Innersten wohnt, produziert er nichts als Sünde. Denn „Es gibt keinen, der Gott ernsthaft sucht!“ (Römer 3,11), der Mensch ist von Natur aus böse (1. Mose 8,21). Es kann also keine Rede davon sein, dass der Mensch sich für Gnade präpariert und qualifiziert. Könnte der Mensch sich der Gnade würdig erweisen, dann wäre es eben keine Gnade mehr. Gnade und Verdienst, Gnade und Rechtsanspruch scheiden sich wie Feuer und Wasser. In Wahrheit ist der Mensch nichts als Finsternis und Chaos, was der Humanist Erasmus nicht wahr haben will. Über dieser Dunkelheit geht ohne Verdienst und Würdigkeit die Sonne des göttlichen Erbarmens auf. Darum: „Gnade allein! Sola gratia!“. Eine „freie Entscheidung für Jesus“ gibt es daher nicht. Denn diese müsste ein von der Sünde versklavter Mensch treffen (Joh. 8,34), in dem nichts Gutes ist (Rö. 7,18). Wer also meint, sich selbst  „für Jesus entschieden“ zu haben, kann es nur aus selbstsüchtigen Motiven getan haben. Er hat sich für einen selbst erfundenen Jesus entschieden, einem übernatürlichen Angestellten, der ihm gehorchen und letztlich in den Himmel bringen soll. Der wirkliche Gott lässt sich aber nicht wählen. Er allein wählt (Joh. 15,16; Rö 9,21). Die Bibel sagt ausdrücklich, dass alle, die an Jesus glauben, Kinder Gottes sind, also aus Gott gezeugt werden (Joh. 1,11-13). Niemand kann sich entscheiden, geboren zu werden oder dagegen. „Entschiedene Christen“ – Christen aus eigener Vollmacht – erkennt man an ihrem religiösen Hochmut. Ihr Glaube ist ja eine Leistung – so meinen sie – und auf die darf man doch stolz sein! Niemand kann jedoch sein Leben „Jesus übergeben“, denn es gehört ihm sowieso (5.Mose 10,14; Joh. 1,11; Rö. 11,36) und er hat es zu einem teuren Preis erkauft (1. Kor. 7,23).

Der Mensch will also gar nicht von sich aus zu Gott, er kann es nicht, niemand würde so zum Glauben kommen. Nein, Gott macht in mir, dass er mich wollen macht! Ein echtes Gläubig-werden ist also kein Entscheiden, sondern ein Erkennen (Joh. 6,69; Joh.17,8; 1. Kor. 8,3; Gal. 4,9; 2. Joh.1,1). Erkennen ist keine Entscheidung. Natürlich kann Gott der eingebildeten freien Entscheidung das Erkennen folgen lassen. Dann ist er wie ein Blinder, der plötzlich sieht. Niemand entscheidet sich fürs Sehen – er sieht einfach. Er ist nicht (mehr) überwältigt von dem, was er mit seiner Entscheidung Gott Gutes getan hat – denn er hat Gott nichts Gutes getan -, sondern darüber, was Gott ihm Gutes getan hat (1. Joh.3,1). Hier bewährt sich die Lehre vom unfreien Willen als Schlüsselerkenntnis, als zentrales Element im persönlichen Glauben.

Luther hat das nicht anders gesehen. Bei dem „unfreien Willen“ geht es um den Kern der Reformation, nämlich die der Rechtfertigung des Sünders vor Gott. Luther meinte: „Wenn ich die Werke und die Wirkungsmacht Gottes nicht kenne, so kenne ich Gott selbst nicht. Kenne ich Gott nicht, so kann ich ihn nicht verehren, preisen, Dank sagen und ihm dienen“.

Warum bleiben Menschen ungläubig?

„Gott gibt ihnen einen Geist der Betäubung, Augen die nicht erblicken…“ (Röm. 11,8); „es [unser Evangelium] ist denen verhüllt, die umkommen, in welchen der Gott dieses Äons die Gedanken der Ungläubigen blendet, damit ihnen der Lichtglanz des Evangeliums der Herrlichkeit des Christus nicht erstrahle.“ (2. Kor. 4,4). „Der natürliche Mensch aber vernimmt nichts vom Geist Gottes; es ist ihm eine Torheit und er kann es nicht erkennen; denn es muss geistlich beurteilt werden“ (1. Kor. 2,14).
Menschen erkennen Gott also deswegen nicht, weil ihnen die Möglichkeit dazu genommen wurde. Sie können ihn nicht erkennen.

Ist das nicht ungerecht? „Was wollen wir nun vorbringen? Doch nicht, es gebe Ungerechtigkeit bei Gott! Möge das nicht gefolgert werden! Denn zu Mose sagt Er: Erbarmen werde ich Mich, wessen ich mich erbarmen möchte; und Mitleid werde ich haben, mit wem ich Mitleid haben möchte. Demnach liegt es nicht an dem Wollenden noch an dem Rennenden, sondern an dem sich erbarmenden Gott. Denn die Schrift sagt zu Pharao: Ebendeshalb habe ich dich erweckt, damit Ich an dir Meine Kraft zur Schau stelle und damit Mein Name auf der gesamten Erde kundgemacht werde. Demnach erbarmt Er sich nun, wessen Er will, aber Er verhärtet auch wen Er will.“ (Römer 9,14-18, siehe dazu 2. Mose 4,21; 9,12; 14,7). Auch der ungläubige Pharao, der mächtigste Mann seiner Zeit, war nur ein Instrument Gottes.

Ist Evangelisation dann sinnlos?

Wenn es nur auf Gott ankommt, ist dann nicht alle Mission und Evangelisation, alles Ermuntern zum Bibellesen schlicht Unsinn? Richtig ist, dass alles nur an der Gnade Gottes liegt, ein ungläubiger Mensch kann nicht zum Glauben überredet werden. Gott allein beruft zum Glauben. Aber wie wirkt Gott? Sicher, er „weht, wo er will“ (Joh. 3,8). Aber wo will er wehen? Der Heilige Geist Gottes hat sich an das Bibelwort gebunden, an das schlichte Zeugnis anderer Menschen. Durch dieses verkündete Evangelium will er durch die Ohren hindurch ins Herz sprechen.

„Heute ist die Stunde des Heils! Komme jetzt zu Jesus! Erhebe jetzt deine Hand! Komm jetzt nach vorn!“. Diese Rufe von Evangelisten hört man oft. Stehen sie aber damit nicht auf dem Boden des Humanismus von Erasmus? Entspringen diese Aufforderungen nicht dem Größenwahn eines Menschen, der meint, durch seine Überredungskünste, ausgefeilte Rhetorik und angewandte Massenpsychologie andere zum Glauben bringen zu können?

Sicher, viele Menschen gehen nach vorn, aufgeputscht durch die Gruppendynamik und Erregung, die durch Musik und viel Theater bewusst erzeugt wird – aber nach der Veranstaltung ist der seelische Höhenflug bald vorbei. Setzen Evangelisten aber nicht darauf, sondern auf das Wirken des Wortes, können von Gott vorbereitete Menschen so erreicht werden. Der Imperativ (die Befehlsform) trägt Frucht, wenn Gott bereits in dem Menschen gearbeitet hat. Wenn Gott das Wollen geschenkt hat, kann diese Aufforderung das letzte Mosaiksteinchen sein, selbst wenn der Evangelist seine Aufforderung in großer Selbstherrlichkeit geäußert hat (vgl. Phil. 1,17f).

Für die Weitergabe des Evangeliums sind also Christen nötig. Auch nach ihrer Berufung sind andere Menschen als Lehrer wichtig, um sie im Glauben wachsen zu lassen. Gläubige sind darin Gottes Mitarbeiter. In ihrem Verhalten, Auftreten, Reden geben sie Zeugnis ab.

Das Wissen um den unfreien Willen aktiviert also, statt zu einem passiven Leben zu führen. „Ich vermag alles“, sagt Paulus in Phil. 4,12, „durch den, der mich mächtig macht, Christus“. Somit ist vieles geklärt: Nichts können wir aus uns heraus (an die Adresse der Humanisten), alles können wir aus Christus heraus (als Ermutigung an Gläubige gerichtet, mehr mit Gott zu wagen).

Einige verwendete Bilder zur Erklärung

Nun ist aber der gefallene Mensch, der Sünder, gerade dadurch gekennzeichnet, dass er „wie Gott sein“ will, er will die Selbst-herr-lichkeit für sich. Er will keinen Herrn über sich. Um dennoch mit diesen deutlichen Aussagen der Bibel klar zukommen, haben sich Bilder entwickelt, um die Sache mit der Willensbildung erträglicher zu gestalten.

Ein Bild, das in unzähligen Variationen kursiert, sagt, dass die Willensfreiheit des Menschen mit einer Fliege in einem Marmeladenglas verglichen werden kann. Bis zur Glaswand kann sich die Fliege frei bewegen, dann muss sie wieder zurück. Umgesetzt auf den Menschen soll das aussagen, dass man einen bestimmten Korridor hat, in dem man sich frei bewegen und entscheiden kann. Gott hat lediglich Grenzen gesetzt. Kommt man an diese Grenzen, kommt Gott ins Spiel und mischt sich ein.

Somit hat der Mensch also in gewissen Bereichen einen freien Willen bis er an die ihm unbekannte Grenze kommt. Überschreitet er diese, ist ihm die Willensfreiheit genommen und er folgt Gottes Willen. Gott steht noch über allem, aber bei den meisten „kleinen“ Entscheidungen ist der Mensch noch sein eigener Herr.

Wo ist aber die Grenze? Wenn man sich noch innerhalb seines Wohnzimmers bewegt? Kann man noch frei entscheiden, was man zum Frühstück isst oder ob man den Nachbarn verklagt? Welche Entscheidungen wären dann in der Verantwortung des Menschen gefallen und Grund für Stolz auf eigene Leistungen und für welche müsste man Gott danken?

Steht in der Bibel, dass Gott zwar einiges wirkt, aber nicht alles? Nein, „alles wird nach dem Ratschluss Seines Willens bewirkt“ (Eph. 1,11). Die Bibel verwendet auch ganz andere Bilder, um die Verhältnisse klar zu stellen. Warum werden diese nicht verwendet? Weil sie vielleicht zu klar sind? Weil sie dem Menschen nicht gefallen?

In einem Bild ist Gott dabei ein Töpfer und der Mensch das modellierte Gefäß. Paulus stellt dann in Römer 9,19 ff die Frage, ob das Gebilde sich etwa über den Bildner beschweren könne. Wer kann sich seine Eltern aussuchen, wer seine Eigenschaften, wer die Einflüsse bestimmen? Wie kann sich das Gebilde bei seinem Bildner darüber beschweren, dass es so geworden ist? Kann der Topf sich selbst formen? Auch das Gute, das wir tun, ist von Gott vorher bereitet. Wir wandeln nur darin, auf dass sich niemand rühme (Eph.2,19).
Gleiches gilt natürlich auch für das Schicksal ganzer Völker, wie Israel: Geformt von Gott, wie der Ton eines Töpfers (Jer.18,6).

Die Theorie des freien Willens, die ja letztlich aussagt, dass unser Wille unabhängig von äußeren Einflüssen (und damit von Gott) entstehen kann, ist also weder biblisch noch logisch. Denn die Entscheidungsfindung jedes Menschen ist in einem größeren Ursache-Wirkungs-Kontext (Vererbung, Sozialisation und andere Einflüsse) eingebunden und daher niemals frei, ob ihm das gefällt oder nicht [10, 42, 43]. In dem Moment, in man handelt, ist man durch Motive bestimmt, die im Moment der Entscheidung nicht mehr zu verändern sind. Also lässt sich jede Handlung aus den vorausgehenden Ereignissen und Einflüssen erklären, beispielsweise der Kindheit. Sie musste geschehen. Dieses Wissen ist die Grundlage der Psychoanalyse. Da Gott diese beeinflussenden Faktoren für jeden Menschen geschaffen hat, entwickelt Gott auch die Persönlichkeit jedes Menschen – man kann von einer „Psychosynthese“ sprechen.

Deshalb können auch kleinste Entscheidungen nicht frei, also ohne äußere Einflüsse, entstanden sein.

Was ist mit den unzähligen Aufforderungen, etwas zu tun?

Aber ist nicht oft auch davon die Rede, dass Menschen den Willen Gottes nicht durchführen? Ist der Wille Gottes also gar nicht so absolut? Hier wird der Wille Gottes oft mit Anweisungen verwechselt, denn dass Menschen Seine Anweisungen ohne Seine Hilfe nicht folgen können, weiß der Schöpfer natürlich. Denn „Es gibt keinen, der Gott ernsthaft sucht!“ (Römer 3,11), dennoch gab es die Anweisung „Suche und du wirst finden“ (Mt. 7,7), als ob es jedem möglich wäre. In Mt. 11,28 gibt Jesus die Anweisung „Kommt alle her zu mir, die ihr euch müht und beladen seid“, obgleich Er natürlich wusste: „Niemand kann zu Mir kommen, wenn der Vater, der mich gesandt hat, ihn nicht zieht“ (Joh. 6,44). Paulus forderte: „Glaube an den Herrn Jesus, und du wirst errettet werden“ (Apg. 16,31), obwohl er gleichzeitig wusste, dass der Glaube ein Geschenk Gottes ist, in Gnaden ohne eigenen Verdienst passiv vom Menschen empfangen (Phil 1,29). Eine Anweisung Gottes kann also nur befolgt werden, wenn der Mensch dazu vorher von Gott bereit gemacht wurde. Auf der anderen Seite bricht natürlich der Wille des Menschen nicht den Willen Gottes, wenn dieser eine Anweisung Gottes nicht befolgen kann. Der absolute freie Wille Gottes, an dessen Durchführung Seine Allmacht gemessen werden kann, hat also nicht den Charakter einer Anweisung, sondern eines Planes (Ratschlusses), einer Absicht oder einer Verheißung Gottes.

Martin Luther schreibt dazu: „Daraus folgt nun, dass der freie Wille ein völlig göttlicher Ehrenname ist und keinem anderen zustehen kann, denn allein der göttlichen Majestät. Sie nämlich kann und tut (wie Psalm 115, 3 sagt) alles, was sie will, im Himmel und auf Erden. Wenn dieser Titel Menschen beigelegt wird, so geschieht das mit nicht mehr Recht, als wenn ihnen auch die Gottheit selbst zuerkannt würde. Größer als diese Gotteslästerung kann aber keine sein.“

Wo bleibt die Verantwortung des Menschen?

Die Kreuzigung Jesu war bis ins Detail in Gottes Plan festgelegt. Niemand konnte das verhindern: „Herodes wie auch Pontius Pilatus mit den Nationen und den Völkern Israels [waren versammelt], um alles auszuführen, was Deine Hand und Dein Ratschluss vorherbestimmt hatten, dass es geschehe“ (Apg. 4,26-28). Auch Judas war ein Werkzeug des Widerwirkers (der wiederum von Gott beauftragt war):“ […] und der Widerwirker hatte es dem Judas, dem Sohn des Simons Iskariot, schon ins Herz gelegt, dass er ihn verraten sollte“ (Joh. 13,2).

Wird Judas für diese schäbige Untat etwa nicht von Gott zur Verantwortung gezogen? Wie könnte er, wo Gott Judas doch benutzt hat?

Schlechte Werke aber, wie diese Tat von Judas, werden zwar „verbrannt“ (vgl. 1. Kor. 3,15), ähnliches wird im Feuersee passieren (Offb. 21). Der Mensch wird zur Rechenschaft gezogen werden (1.Petrus 4,5; Mat.12,36; Römer 14,12; Hebr. 13,17). Das bedeutet, dass schlechte Taten vor Gott zur Sprache kommen werden, in welcher Form auch immer. Dadurch kann der Mensch aus seinen Erfahrungen lernen und daraus Erkenntnisse gewinnen – was nicht geht, wenn diese unter den Tisch gekehrt werden.

Aber sind Menschen dafür verantwortlich, dass die Sünde in die Welt kam? Nein (1. Kor. 15,21). Können sie dann für die Folgen zur Rechenschaft gezogen werden? Natürlich nicht.

Selbstverständlich kann der Mensch auch nicht dafür zur Rechenschaft gezogen werden, dass er nicht zum Glauben berufen wurde. Die heidnische Höllenlehre kann daher nicht biblisch sein und ist es bei näherer Betrachtung auch nicht. Es werden ja letztlich auch alle Menschen gerettet. Warum? Einzig, weil Gott es will (1.Tim.2,4). Es wird also nichts passieren, was dieses Vorhaben verhindern könnte. Auch nicht die Widerspenstigkeit der Menschen, denn auch diese ist gottgewollt (Römer 11,32).

Übt Gott Zwang aus? Sind Menschen seine Marionetten?

Hier muss sorgfältig mit den Begriffen umgegangen werden. Unter Zwang verstehen wir eine Vergewaltigung von außen her. Zwang bezieht sich nicht auf den Willen, sondern auf das Tun. Wer gezwungen wird, der wird durch äußere Gewalt genötigt, etwas zu tun, was er gerade nicht will, oder etwas zu unterlassen, was er heiß begehrt. Zwang setzt also – das steckt in der Logik des Begriffs – immer einen entgegengesetzt ausgerichteten Willen voraus; Zwang geschieht stets „wider Willen“.

Gott zwingt aber nicht, er überwindet und überzeugt uns durch seinen Heiligen Geist von innen her. Er zwingt nicht, er zieht. Satan zwingt zwar auch nicht mit äußerer Gewalt, aber der Vater der Lüge überredet, manipuliert und belügt den Menschen in seinem Inneren. Satan führt so den Menschen immer weiter weg von dem, was er eigentlich will – was also seiner Bestimmung entspricht. Irgendwann „will“ er seinen Nächsten ermorden; aber auch aus freien Stücken?

„Unfreier Wille“ bedeutet also, dass der Mensch nicht von sich heraus in der Lage ist, die Richtung, die innere Bestimmtheit, die Zielstrebigkeit seines Willens zu ändern. Wie ein Fluss mit all seinem Brausen und Toben bei seiner verheerenden Gewalt niemals sein Gefälle (die Richtung von oben nach unten) umkehren kann, so vermag der ungläubige Mensch zwar in der vitalen Leidenschaft seines Wollens mächtig zu schäumen, aber sein Kurs wird immer heißen: Los von Gott! Das ist ja gerade die ganze Leidenschaft des Sünders: Er will keinen Herrn über sich. Diese gottfeindliche Willensrichtung kann der Mensch von sich aus niemals korrigieren. Der junge Luther hat es so zusammengefasst: „Der Mensch kann von Hause aus nicht wollen, dass Gott Gott sei; im Gegenteil, er will lieber, dass er selbst Gott sei und dass Gott nicht sei“.

In dieser Verblendung im Rausch der Träume und Illusionen, getrieben durch mediale Bilder, die Glück, Leben und Freiheit ohne Gott vorgaukeln, wähnt er sich im Besitz eines freien Willens. Die Freiheitsidee ist der Glaube des natürlichen Menschen. Dass der Mensch nicht anders kann, als an seine Freiheit zu glauben, das ist seine Unfreiheit.

Das Hauptkennzeichen des gefallenen Menschen ist, sich für frei zu halten. Ansonsten müsste er ja anerkennen, dass Gott seine Geschicke lenkt.

Schopenhauer hat das Dilemma der menschlichen Unfreiheit gut zusammengefasst: „Der Mensch kann tun, was er will; aber kann nicht wollen, was er will“. Etwas anders hat der Apostel Paulus dies ausgedrückt: „Denn nicht das, was ich will, setze ich in die Tat um, sondern das, was ich hasse, das tue ich“ (Römer 7,15).

Frei kann ein Mensch nur werden, wenn er zu seiner eigentlichen Bestimmung zurückgeführt wird. Wenn der Wille des Menschen nicht mehr durch den Zeitgeist, die Welt und damit Satan diktiert wird, sondern wenn er wirklich das wollen kann, was seiner Bestimmung entspricht. Wer aber kennt als einziger diese Bestimmung, wer hat sie festgelegt? Gott! Nur er kann den Menschen dorthin zurückführen. Der Mensch kann also nur wirklich frei werden, nachdem er durch Christus zur Freiheit befreit wurde (Gal.5,1). Wodurch geschieht dies? Das Lösegeld ist Jesu Blut (Eph.1,7): Erlösung, besser Freilösung, griechisch „Apo lutrosis“, ist das Loskommen aus Unfreiheit durch gezahltes Lösegeld. Vorher, bevor dem Menschen diese Freiheit geschenkt wird, ist er eine Marionette (Rö 6,20), vorher unterliegt er tausenden Zwängen – freilich ohne dass er dies weiß. Paulus führt dazu aus: „Daher sage ich: Wandelt im Geist, und ihr werdet die Begierde des Fleisches keinesfalls vollbringen. Denn das Fleisch gelüstet gegen den Geist, den Geist aber gegen das Fleisch. Diese beiden widerstreben einander, damit ihr nicht das tut, was ihr etwa wollt. Wenn ihr aber vom Geist geführt werdet, steht ich nicht mehr unter Gesetz.“ (Gal. 5,17).

Konsequenzen

Das Erkennen des eigenen unfreien Willens schafft die entscheidende Änderung der Einstellung, die für den von Gott berufenen Menschen Grundlage des Glaubenswachstums und des neuen Lebens mit Gott ist.

Solch ein Christ wird nicht mehr mit Gott hadern und über die aktuellen Umstände – und sei es nur das Wetter – jammern und bei Gott ständig Veränderungen einfordern. Denn diese Umstände sind mit Bedacht von Gott gestaltet, vielleicht als Herausforderungen, um daraus zu lernen. Er wird auch nicht unzufrieden auf vergangene Weichenstellungen seines Lebens zurückblicken, denn er weiß: All das ist von Gott gewirkt, es hat alles einen Zweck, auch wenn ich den im Moment nicht erkennen kann. Darüber unzufrieden zu werden, würde bedeuten, Gott anzuklagen. Das wäre grober Undank, denn: „Denen die nach Seinem Vorsatz berufen sind“, also die Gläubigen, wirkt Gott „alles zum Besten zusammen“ (Römer 8,28), also auch das, was wir als negativ einschätzen: Leiden, Krankheiten und andere Drangsale. Christen können dies im Glauben annehmen und wissen. Jammerchristen sind sie dann nicht mehr. Gereifte Christen zeichnet aus, dass sie vor allem in ihren Gebeten danken, auch für die Umstände, die ihnen nicht genehm sind. Lernen wir es, ihm zu glauben, alles aus seiner Hand zu nehmen und ihm dankbar zu sein für alles (Eph. 5,20, 1.Thess. 5,18). Diese positive Einstellung, dieses Geborgenfühlen in Gott, lässt Menschen wieder seelisch gesunden. Das ist wirkliches Glück.

Das Wissen um den unfreien Willen entkrampft auch den Umgang mit dem Nächsten. Denn man darf dann wissen, dass der Andere so ist, weil Gott ihn so wollte. Er kann genauso wenig für seine Fehler und Stärken wie man selbst. Der Andere ist ebenfalls ein Gebilde Gottes. Missachten wir ihn, klagen wir damit den Schöpfer an. Auch mit ihm wird Gott einmal zurechtkommen – wir dürfen zwar Zeugnis von unserem Herrn abgeben, wissen aber, dass es nicht unser Versagen ist, sollte er nicht zur Umsinnung kommen.

Auch was die Zukunft betrifft, kann der Christ getrost sein, dass er nicht in einem Strudel von Zufällen und sinnlosen Schicksalsschlägen untergehen wird, sondern dass Gott seine Wege führen wird. Deshalb kann er der Anweisung des Paulus Folge leisten „Freut euch in dem Herrn allezeit! […] Sorgt euch um nichts!“ (Phil. 4,4f).

Diese Ausgeglichenheit schafft die innere Ruhe, in der die Kraft Gottes wirken kann: „… Denn wir sind Sein Tatwerk, erschaffen in Christus Jesus für gute Werke, die Gott vorher bereitet, damit wir in ihnen wandeln“ (Eph. 2,9-10).

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Dieser Text als Video aufbereitet:

 

Literatur

Dr. Martin Luther: Vom unfreien Willen, 1525

Dr. Siegfried Kettling: „Vom unfreien Willen“ – kommentiert vom Autor (pdf)

The Atlantic (06/2016): There’s No Such Thing as Free Will (engl.)